Seit Tschetschenien verabscheue ich Putin. Seit dem Irak verabscheue ich Bush. Und ich verabscheue die US-amerikanische „Freiheit“ auf Guantanamo ebenso wie den globalen amerikanischen Überwachungsstaat oder die russische Beseitigung der Presse- und Meinungsfreiheit.
Ich sage dies deshalb, weil die kalten Krieger unterwegs sind. Wer es wagt, ein differenziertes Bild von der Ukraine zu zeichnen, wird zum Putin- Freund. Es fehlt eigentlich nur noch der Satz…“geh‘ doch rüber zu den Russen“. Ja mache ich. Zum Beispiel wieder im September im Rahmen eines Partnerschaftsprojekts. Ich werde russische Gastfreundschaft genießen und werde dennoch nicht zum Putin- Fan.
Die deutsch- russische Geschichte ist eine Aneinanderreihung tragischer Höhepunkte, die im 2. Weltkrieg noch jede Form vorstellbaren Grauens übertraf. Die Revanche der Roten Armee vor 1945 an unschuldigen Deutschen, vor allem gegenüber Frauen und Mädchen, ist gleichfalls Teil dieses Grauens. Immerhin: Die „unzivilisierten“ Rotarmisten führten nicht ganze Dorfbevölkerungen in Kirchen und zündeten diese von außen an. Das blieb eine deutsche Spezialität und diversen Wehrmachts- und SS- Einheiten auf russischem Boden vorbehalten.
Diese Geschichte brachte mich aber dazu, mich schon zu Sowjetzeiten und bis heute vor Ort für Austausch und Völkerverständigung einzusetzen. Schon in jungen Jahren war ich dort. Was mir dann in vielen Jahren in Russland, neben der Gastfreundschaft und dem obligatorischen Wodka, immer begegnete, war, übrigens ähnlich der Gespräche mit Israelis, das tief verwurzelte „..nie wieder“. Nie wieder wollte man Opfer sein.
Diese Opferrolle ist tief in der russischen Seele verwurzelt. Und sie wurde ja, historisch betrachtet, oft genug erlebt und nicht „nur“ befürchtet. Und genau dieses Gefühl, mag man es aus HEUTIGER Sicht als Paranoia empfinden, spielt den Putins in die Hände. Nichts fürchtet Russland mehr, als dass ihm (wieder) fremde Mächte auf den Pelz rücken, es zerstören oder „nur“ umzingeln und demütigen. Und hier sind wir spätestens beim aktuellen Ukraine – Konflikt angelangt.
Die EU wollte die Ukraine zwingen, sich zwischen ihr und Russland zu entscheiden. Die EU entblödete sich nicht, Russland vor Einmischung zu warnen. Weshalb eigentlich? Welches Interesse hat die EU an der Ukraine? Welches Interesse hat sie, ein marodes Wirtschaftssystem zu päppeln, während sie elementare Hausaufgaben vor und hinter der eigenen Haustüre nicht bewältigen kann? Welche Perspektive kann die EU angesichts von Massenarbeitslosigkeit in Spanien und Griechenland jungen Ukrainern versprechen? Keine.
Was kann die EU der russischen Mehrheit auf der Krim versprechen? Nichts. Noch nicht einmal einen Touristenboom durch jene Deutsche, die jetzt nicht mehr ins böse Griechenland reisen wollen. Die Menschen dort wissen das. Aus diesem Grunde sprechen sie sich mehrheitlich, wie auf der Krim, für Russland aus. Das ist der berühmte Spatz in der Hand. Und es ist rational nachvollziehbar, sofern man nicht in irgendwelchen Elfenbeintürmen in Brüssel oder Washington hockt. Natürlich muss es auf Europäer wie Amerikaner verstörend wirken, wenn dort plötzlich jemand russische statt EU- Fahnen schwenkt und sich ein Regionalparlament mit großer Mehrheit für Russland ausspricht.
Das macht den Westen fassungslos. Wie furchtbar. Und noch fassungsloser ist auch mal wieder der Mainstream des deutschen Journalismus (eine rühmliche Ausnahme, auch im PS unten hier die FAZ oder Carta) . Ein Boykott muss also her, wenn es schon mit einem Einmarsch in Russland nicht mehr klappt, um die Russen mal wieder zu bestrafen. Vorteil: Deutschland und die EU können endlich wieder bedingungslose Vasallentreue versprechen. War da was mit einem Snowden oder so?
Was aber wäre eigentlich, hätte das (nun wirklich unbestritten) demokratisch gewählte Krim-Parlament jetzt den Beitritt zur EU und in die Nato statt die nachvollziehbare russische Annäherung beschlossen? Sofort wäre Russland aus Washington und Brüssel ultimativ aufgefordert worden, das Ergebnis gefälligst zu respektieren. Umgekehrt darf und soll das nicht gelten?
Oder kommen wir mal auf eine ganz abwegige Idee: Was passierte, wenn russische Politiker auf dem Marktplatz von Mexico- City auftreten und dort für den Beitritt zur russischen Zollunion statt zur weiteren Wirtschaftsgemeinschaft mit den Amerikanern werben? Und die Amerikaner parallel dazu vor jeder Einmischung in diese russisch- mexikanischen Beziehungen warnten?
Wir hätten wohl eine richtige weitere weltpolitische Krise und der Westen liefe gegen diesen „neuen Sowjet-Imperialismus“ Amok. Zu Recht. Geostrategisch hätte Russland in Mexico nichts verloren. Was aber haben bitte die Amerikaner geostrategisch mit der Krim oder der Ukraine zu tun? Was hat der üble Scharfmacher und US- Senator MacCain auf dem Maidan verloren, wo immer unklarer wird, wer da eigentlich wahllos in die Menge schoss?
Man muss nun wirklich kein „Antiamerikaner“ oder gar Freund Putins sein, um eins und eins zusammenzuzählen. Der offensichtliche Versuch von EU und Nato, die Ukraine völlig aus russischem Einfluss herauszulösen, ist kläglich gescheitert. Und sie ist gescheitert, weil westliche Diplomaten und Regierungen offensichtlich unfähig sind, Grundmuster russischer Politik und Befindlichkeiten zu begreifen. Siehe oben.
Das westliche Grundmuster scheint dem gegenüber also eher Dämlichkeit zu sein. Zumindest Dämlichkeit kann man dem strategischen Fuchs Putin nicht unterstellen. Er bleibt dennoch ein Verbrecher wie Bush und andere. Wie sagte Egon Bahr: Es gibt nur Interessen von Staaten. Richtig. Und die nimmt Putin ebenso wahr, wie sie ein Friedensnobelpreisträger Obama nebst Vorgängern ohne Rücksicht auf (menschliche) Verluste bis hin zu Kriegen und Drohneneinsätzen ständig für sich in Anspruch nahmen und nehmen.
Manchmal ist die Wahrheit bitter. Und die Wahrheit ist: Das Desaster ist durch den Westen verursacht. Bezahlen werden es leider die Menschen in der Ukraine, egal wie sie sich zwischen Pest und Cholera entscheiden oder noch entscheiden können.
Falls, ja falls, die Diplomatie nicht siegt und sie der Ukraine einen Platz ZWISCHEN Nato, EU und Russland zuweist, mit dem ALLE Seiten leben können und mit dem vor allem die Ukrainer selbst eine Perspektive bekommen. Alternativ könnte nur eine Mauer quer durch eine dann geteilte Ukraine gebaut werden, die es in ihrem heutigem Zustand in einem EU/Nato- Westblock aber auch in fünfzig Jahren nicht geben wird. Wer wollte das ernsthaft?
Also sorry, liebe kalte Krieger, sofern Ihr wieder den Verstand einschaltet: Für einen kalten Krieg gegen Russland besteht kein Anlass. Putin, die Ukraine und Krim hin oder her.
PS 1: Die FAZ hat was begriffen:
PS 2 : Hierzu auch ein interessanter Blickwinkel aus einer ganz anderen Ecke (Kaukasische Post):
http://www.kaukasische-post.com/?p=1630
PS 3 Carta
Ich stimme den jeweiligen Artikeln vollinhaltlich zu.
…“Die EU wollte die Ukraine zwingen, sich zwischen ihr und Russland zu entscheiden. Die EU entblödete sich nicht, Russland vor Einmischung zu warnen.“… Könnten Sie das mal erläutern?
Anmerkung Tauss: Gerne: Als das Assoziierungsabkommen im letzten Jahr (vor den Demonstrationen) auf der Kippe stand und die damalige ukrainische Regierung vor der Unterzeichnung zurückschreckte, „warnte“ die EU Russland vor der Einmischung. Spätestens jetzt wäre es für die EU- Dipolmatie aber statt dessen an der Zeit gewesen, das Gespräch mit Russland zu suchen, dessen geschilderte „Paranoia“ bekannt sein müsste. Es HÄTTE die Chance bestanden, mit Russland und der Ukraine einen Wege zu besprechen, der für alle Seiten zu einer Win-Win-Situation geführt hätte. Wer aber die Ukraine mit Kraftmeierei in die EU und in die Nato befördern möchte erlebt das, was er zur Zeit erlebt.
Ich kenne die „russische Seele“ leider nicht.
Aber – ich sehe die Arroganz und Dämlichkeit in der westlichen Politik (typ EU, Nato, USA).
Sie schreiben „Das Desaster ist durch den Westen verursacht. Bezahlen werden es die Menschen in der Ukraine“.
Dem kann ich leider nur zustimmen. Ich hoffe, dass das in den „Qualitäts-Medien“ noch ein bisschen thematisiert wird… zumindest ein kleines bisschen.