100 Menschen im Rollstuhl sind zu viel

Aktualisierte Fassung mit einer ersten Antwort des Bundestages und einer mir jetzt vorliegenden Erklärung des Deutschen Behindertenrats (siehe unten):

Ehrlich gesagt hielt ich es zunächst für schlichten Fake als ich hörte, der Deutsche Bundestag hätte 300 Behinderte zu einer Veranstaltung ausgeladen, weil sich darunter rund 100 Menschen im Rollstuhl befunden haben.

Hierüber wurde zwischenzeitlich auch im Fernsehen (Extra 3) berichtet– auch wenn es leider keine Satire ist.

Nun sind Sicherheitsbedenken und Brandschutz sicher ernst zu nehmen. Ich habe aber erhebliche Zweifel, dass auch mit NUR etwas gutem Willen diese Veranstaltung NICHT möglich gewesen sein soll. Diese Einschätzung sei mir als Bruder eines langjährig Querschnittgelähmten und Mitglied eines Rolli-Clubs gestattet, dessen Mitglieder ich auch schon durch den Bundestag führte. Des weiteren habe ich 10 Jahre aktive Mitgliedschaft in einer Rettungsorganisation und im Katastrophenschutz vorzuweisen, um allen Einwänden vorzubeugen, ich würde mögliche Risiken sträflich und laienhaft ignorieren.

So richtig auf die Palme bringt mich aber zunächst der nachfolgende Satz, den man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen sollte, bevor man sich erbricht:

Die Veranstaltung soll nun im Oktober 2012 stattfinden, wobei diesmal dafür gesorgt werden soll, dass die Zusammensetzung der einzuladenden Personen den Gegebenheiten der Räumlichkeiten im Bundestag entspricht.

Auf Deutsch: Auch 2012 werden Rollstuhlfahrer unerwünscht sein. Ich halte dieses Verhalten des Deutschen Bundestages für inakzeptabel, beschämend und nicht hinnehmbar.

Einschub: Diese Haltung deckt sich auch mit der des Deutschen Behindertenrats, wie ich jetzt erfuhr. Darin dementiert der Behindertenrat klar Behauptungen des Deutschen Bundestages:

Im Schreiben vom 11. Oktober teilt der Deutschen Bundestag nunmehr den angemeldeten Personen mit, dass die Veranstaltung auf den Oktober nächsten Jahres mit einem veränderten Anmeldeverfahren verschoben wird. Das Anmeldeverfahren führt dann dazu, dass die Anzahl der Teilnehmenden, die einen Rollstuhl nutzen, begrenzt wird. In diesem Schreiben wird behauptet, dass der Deutsche Behindertenrat diese Entscheidung mit trägt, das ist nicht zutreffend. Ein solches Verfahren ist von großer – negativer – Symbolkraft und für den Deutschen Behindertenrat nicht akzeptabel.

Da man vor den weiteren Schlussfolgerungen und einem notwendigen weiteren Artikel zu diesem Thema auch die Gegenseite zu Wort kommen lassen soll, habe ich folgende Fragen an den Bundestag gerichtet:

Sehr geehrte Damen und Herren,

für einen Artikel bitte ich um Mitteilung der Hintergründe, die zur Absage einer Veranstaltung mit 300 Behinderten, davon 100 Rollstuhlfahrern, und einer entsprechenden Ausladung führten. Unter welchen Prämissen mit welchem angenommenen (Katastrophen-)Szenario erfolgte die Absage?

Dazu hätte ich weiter die ergänzende Frage, für wie viele Menschen im Rollstuhl die Räumlichkeiten des Bundestages gleichzeitig nutzbar wären, wenn 100 zu viel seien? Z. B. 10, 50, 80 ? Und:

Wäre für die Zukunft beabsichtigt, diese Kapazitäten zu erhöhen?

Wenn sich die genannte Behindertenveranstaltung nicht im Plenarsaal durchführen liess: Welche Gründe sprachen dagegen, die Veranstaltung (wie andere auch) dann ggf. im Foyer des Paul-Löbe-Hauses abhalten zu lassen, wo mit geringem Aufwand ein ebenerdiger Zugang zu ermöglichen wäre?

Welchen Aufwand hätte es bedeutet, im Plenarsaal ggf. 100 Stühle zu entfernen und wieder anzubringen?

Wegen der Aktualität des Ereignisses bin ich für eine rasche Stellungnahme sehr dankbar.

Mit freundlichen Grüßen Jörg Tauss

Hier die 1. Antwort, die allerdings nicht alle Fragen beantwortete und zu neuen Nachfragen führte:

Am 13.10.2011 um 13:50 schrieb die Pressestelle des Bundestags:

Sehr geehrter Herr Tauss,

zu Ihrer Anfrage kann ich Ihnen folgendes mitteilen: Die Veranstaltung des Deutschen Bundestages „Menschen mit Behinderung im Deutschen Bundestag“ musste aus veranstaltungstechnischen Sicherheits- und Brandschutzgründen in ihrer geplanten Form abgesagt werden. Alle Expertinnen und Experten der Bundestagsverwaltung, der obersten Bauaufsicht der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und die Berliner Feuerwehr haben dies nach intensiver Prüfung festgestellt.
Bezüglich der Sicherheit Abstriche zu machen, war keine Option. Die Prüfung von alternativen Veranstaltungsorten in Berlin hat leider auch kein annehmbares Ergebnis erbracht.

Bei der Konzeption der Veranstaltung gingen alle Planer / Experten davon aus, dass erfahrungsgemäß etwa 10 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer solcher Veranstaltungen Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer sind.

Mit freundlichen Grüße
Deutscher Bundestag
PuK 1 Presse, Rundfunk, Fernsehen
Platz der Republik 1 11011 Berlin


Diese Antwort, in der auf verschiedene Punkte der obigen Anfrage nicht eingegangen wurde,  bringt mich zu folgenden weiteren Nachfragen:

Sehr geehrter Herr …….

vielen Dank für Ihr prompte Antwort auf einen  Teil meiner Fragen. Ich gehe davon aus, dass diese als Stellungnahme des Deutschen Bundestages so verwendet bzw. zitiert werden kann.

Konkret verstehe ich die Antwort so, das man also bei bei ca. 10% von 300 teilnehmenden Personen  von max. 30 Menschen in Rollstühlen ausging, denen man dann Zugang gewährt hätte. Ist die Zahl 30  also die Obergrenze von in den Gebäuden des Bundestages akzeptierten Rollstuhlfahrern?

Ist davon auszugehen, dass alle Veranstaltungen im Deutschen Bundestag, an denen gemessen an der Zahl der Anwesenden bzw. der genannten Obergrenze gleichzeitig mehr als 10% oder 30 Personen mit Rollstühlen teilzunehmen beabsichtigen, künftig abgesagt werden? Sie schreiben „in der geplanten Form“. Welche Optionen für eine andere Form, ich erinnere an meine unbeantwortete Frage zum Paul-Löbe-Haus, wurden geprüft?

Gibt es ein Protokoll der Besprechung mit Bauaufsicht, Feuerwehr und Ihren Experten des Hauses? Ich bitte Sie, mir dieses gemäß den Bestimmungen des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) zukommen zu lassen.
Besten Dank!

Mit freundlichen Grüßen
Jörg Tauss

Über den weiteren Fortgang werde ich gleichfalls informieren.

6 Gedanken zu „100 Menschen im Rollstuhl sind zu viel

  1. Michael

    Ahoi Herr Tauss,

    ist der Herr … mittlerweile dem IFG gefolgt und hat er das von Ihnen geforderte Protokoll vorlegen können, damit die angelegten Argumente
    seitens der Hausherren des Bundestages in irgendeiner Weise glaubhaft werden?

    Ich vermute mal ein… „nein“.

    Anmerkung tauss: Bisher nicht. Die Frist ist aber auch noch nicht verstrichen

  2. karl

    … und jetzt üben wir noch die korrekte Verwendung von WordPress, damit man als RSS-Leser die Updates auch mitbekommt (oder verwendet gleich ein geeigneteres System, gibt ja genügend im OpenSource-Umfeld).

  3. Pingback: Froschs Blog » Blog Archive » Im Netz aufgefischt #30

  4. paradoxus

    Wäre der Papst mit 100 Kardinälen im Rollstuhl gekommen, hätte es sicherlich keine Probleme gegeben … alles eine Frage des Kosten-Nutzen-Verhältnisses. In diesem Fall haben die „Planer“ aber geschlampt, weil nicht nachgefragt, vermute ich. Den Textbaustein danach findet man fast überall in Berlin.

    Erinnert mich aber stark an die, weitgehend bundeseigene, Bahn AG. Dort ist ein Ausflug mit mehr als nur wenigen Rollstuhlfahrern im Fernverkehr genauso wenig möglich wie mit vielen Kinderwägen. Selbst nach Vorbestellung ist das mitunter wg. der Platz- und Gepäckprobleme im ICE nicht mehr möglich.

  5. SImon

    Aber einen Bahnhof tieferlegen, aus dem Rollstuhlfahrer nicht alleine raus kommen, das ist natürlich kein Problem. Da bekommt man doch die Hand nicht aus dem Gesicht…

  6. AbbeFaria

    Ich könnte mir vorstellen man hatte einfach bedenken, ob man 100 Rollstuhlfahrer im Falle einer Havarie schnell genug evakuieren kann.
    Sicher, schlecht geplant und unglücklich gelaufen, aber für mich nichts über das man sich über die Maßen aufregen muss.
    Ich erkenne allerdings an, dass ein Rollstuhlfahrer im Allgemeinen und ein ausgeladener Rollstuhlfahrer im Besonderen das anders sehen wird.

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